Es gibt Sätze, die klingen wie Licht und können doch in tiefe Dunkelheit führen. Einer von ihnen lautet: „Wir erschaffen zu hundert Prozent unsere eigene Realität.“ Wer diesen Satz hört, kann darin ein Versprechen vernehmen: dass wir nicht ausgeliefert sind, dass wir unser Leben gestalten, dass wir nicht nur Spielball des Schicksals bleiben. Manche Menschen berichten, er habe ihnen Kraft gegeben, sei wie eine Tür gewesen, die sie aus der Ohnmacht hinausführte.
Doch derselbe Satz kann für andere wie ein Schlag ins Gesicht klingen, vor allem für jene, die Gewalt, Missbrauch oder Demütigung erlebt haben. Dann klingt er nicht nach Befreiung, sondern nach Schuld: Habe ich mir das selbst erschaffen? Bin ich verantwortlich für die Hand, die mich geschlagen hat, für die Tat, die mich gebrochen hat, für das System, das mich niedergerungen hat?
In dieser Spannung zwischen Inspiration und Verletzung begegnen sich zwei Welten, die viel zu selten wirklich miteinander sprechen: die Welt einer Spiritualität, die radikale Eigenverantwortung betont, und die Welt der Traumatherapie, die damit beginnt, Menschen ausdrücklich von Schuld zu entlasten. Gerade weil diese beiden Welten einander missverstehen und verletzen können, erscheint es mir notwendig, genauer hinzusehen.
Trauma ist keine Schuld
Wer Trauma erlebt, lebt nicht nur mit einer Erinnerung. Trauma ist kein abgeschlossenes Kapitel, das man in ein Tagebuch schreiben und dann in die Schublade legen könnte. Trauma lebt weiter. Es lebt im Körper, im Nervensystem, in der Psyche.
Der Psychiater Bessel van der Kolk hat es in einem Satz zusammengefasst, der inzwischen zu einem Schlüsselzitat geworden ist: „Being traumatized means continuing to organize your life as if the trauma were still going on … as every new encounter or event is contaminated by the past.“ (2014). Mit anderen Worten: Für traumatisierte Menschen ist das Gestern immer noch heute. Jede Begegnung, jeder Blick, jedes Geräusch wird durch die Brille der Vergangenheit gefiltert.
Judith Herman, eine der Pionierinnen der Traumaforschung, spricht von einem inneren Konflikt, der kaum auszuhalten ist: „The conflict between the will to deny horrible events and the will to proclaim them aloud is the central dialectic of psychological trauma.“ (1992, S. 7). Heilung beginnt, wenn das Schweigen gebrochen werden darf, wenn die Wahrheit ausgesprochen werden kann, wenn die Schuld dort benannt wird, wo sie hingehört: bei den Täter:innen, nicht bei den Überlebenden.
In der traumatherapeutischen Praxis hat sich daraus ein Phasenmodell entwickelt: Zuerst geht es um Sicherheit und darum, dass ein Mensch überhaupt wieder spüren darf, dass er jetzt geschützt ist. Danach folgt die Phase des Erinnerns und Trauerns: die Geschichten dürfen ausgesprochen, die Gefühle betrauert, die Wunden anerkannt werden. Erst dann wird eine Neuorientierung möglich, ein Leben, das nicht nur aus Überleben besteht. Alle drei Phasen setzen voraus, dass die Schuldfrage geklärt ist. Wer Gewalt erlebt hat, trägt keine Schuld.
Literarische Spiegelung: Zaylas Frage
Auch in meiner literarischen Arbeit taucht diese Spannung immer wieder auf. In Nachttanz ringt Zayla, die Protagonistin, mit genau dieser Frage: Kann selbst ein Mord in einem größeren Sinnzusammenhang stehen? In einer Szene im 6. Kapitel des ersten Bandes der Nachttanz-Saga sagt sie zu Travis: „Die meisten Leute wehren reflexartig ab, wenn man sie mit der Idee konfrontiert, dass auf einer höheren Ebene selbst ein Mord einen Sinn haben kann. Vielleicht nicht unbedingt haben muss, aber doch haben kann.“
Diese Worte sind nicht als billige Vertröstung gemeint, sondern als Ausdruck einer radikalen Offenheit: dass die Seele auch im Schrecklichsten Lernfelder, Entwicklungsmöglichkeiten oder karmische Knoten sehen könnte. Zayla verweigert sich dabei einfachen Antworten. Sie weiß um die Zumutung, die in einer solchen Sicht liegt. Und doch verweist sie auf ein „Mehr“, das jenseits der sichtbaren Realität spürbar wird.
Wichtig ist jedoch, diese literarische und spirituelle Ebene nicht zu verwechseln mit der konkreten Arbeit von Traumatherapie. Für Überlebende von Gewalt wäre es zerstörerisch, wenn man ihnen vorschnell erklärte, ihr Leid sei Teil eines Plans oder gar von ihnen selbst gewählt. Solche Deutungen können leicht in das abgleiten, was Robert Augustus Masters als spirituelles Bypassing beschreibt: eine Vermeidung der Realität durch spirituelle Erklärungen.
Die therapeutische Haltung bleibt deshalb unverrückbar: Schuld liegt bei den Täter:innen. Punkt. Erst auf dieser Grundlage kann sich eine weiterführende, spirituelle Frage überhaupt behutsam entfalten. Und zwar dann, wenn Betroffene selbst dafür bereit sind. In dieser Reihenfolge können sich die beiden Ebenen ergänzen, statt sich gegenseitig zu verletzen.
Verantwortung ohne Schuld
Heilung bleibt unvollständig, wenn die eigene Rolle nur in der Verneinung von Schuld gesehen wird. Denn irgendwann wächst die Frage: Wie gehe ich heute mit dem Geschehenen um?
Hier kommt die Unterscheidung ins Spiel, die gerne übersehen wird: Schuld und Verantwortung sind nicht dasselbe. Schuld blickt zurück: Wer hat Unrecht getan? Verantwortung blickt nach vorn: Welche Haltung wähle ich jetzt?
Judith Herman hat es so ausgedrückt: „The first principle of recovery is the empowerment of the survivor. She must be the author and arbiter of her own recovery.“ (1992, S. 133). Autorin oder Autor der eigenen Heilung zu sein, bedeutet nicht, Schuld auf sich zu laden, sondern das Steuer wieder in die Hand zu nehmen.
Geschichten als Spiegel
Diese Unterscheidung lässt sich am stärksten durch Geschichten begreifen.
Jesus am Kreuz – gequält, verspottet, ans Holz genagelt – sagte: „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun.“ Er nahm den Tätern nicht die Schuld ab. Aber er übernahm Verantwortung für seine innere Antwort. Er entschied, in der Liebe zu bleiben.
Viktor Frankl, der die Konzentrationslager überlebte, schrieb: „Everything can be taken from a man but one thing: the last of the human freedoms -- to choose one’s attitude in any given set of circumstances.“ (1946, S. 66). Auch er unterschied: Schuld für das Grauen lag bei den Tätern. Verantwortung lag darin, die eigene Haltung zu wählen.
Und dann gibt es Geschichten, die leiser sind, beinahe mythisch. In einem Podcast, den ich vor einiger Zeit hörte, wurde im biblischen Erzählstil von einer Frau berichtet, die im asiatischen Raum Opfer einer Gruppenvergewaltigung wurde. Es gelang ihr inmitten dieses Horrers, innerlich in der Liebe zu bleiben; in den Angreifern noch etwas Menschliches zu erkennen, ja sogar den göttlichen Funken zu sehen, der jedem Menschen innewohnt, unabhängig davon, wie weit er sich von Licht und Liebe entfernt hat. Und dann geschah das Unfassbare: Die Gewalt hörte auf und die Angreifer begannen zu weinen.
Diese Frau war niemals „schuld“ an dieser Tat. Aber sie verkörperte eine Form von Verantwortung, die weit über das Vorstellbare hinausging: die Verantwortung für ihre innere Antwort.
Stimmen der Forschung
Die moderne Traumaforschung hat viele Facetten. Van der Kolk zeigt, wie sehr der Körper selbst zum Gefängnis wird: „Traumatized people chronly feel unsafe inside their bodies … The past is alive in the form of gnawing interior discomfort …“ (2014, S. 97).
Peter Levine beschreibt in seinem Konzept des Somatic Experiencing, wie Trauma als „eingefrorene Energie“ im Nervensystem liegen bleibt. Tiere in der Wildnis zittern nach einem Schock, um die Spannung abzugeben. Menschen tun das oft nicht – und bleiben gefangen. Heilung bedeutet, diese Bewegung wiederzufinden.
Janina Fisher arbeitet mit inneren Anteilen. Sie zeigt, wie traumatisierte Menschen in sich selbst zersplittern: ein verletztes Kind, ein Überlebensmanager, ein strenger Kritiker. Heilung bedeutet nicht, diese Stimmen zum Schweigen zu bringen, sondern sie ins Gespräch zu führen.
Stephen Porges hat mit seiner Polyvagal-Theorie erklärt, dass Sicherheit nicht einfach Abwesenheit von Gefahr ist, sondern die Gegenwart von Beziehung. Erst wenn wir uns verbunden fühlen, entspannt sich das Nervensystem.
Und Gabor Maté hat den Kern vielleicht am einfachsten formuliert: „Trauma is not what happens to you, but what happens inside you as a result of what happens to you.“ (2008). Trauma ist der Bruch in der Verbindung – zu uns selbst, zu anderen, zur Welt.
Spirituelle Perspektiven
Auch die großen spirituellen Traditionen haben etwas beizutragen. Im Christentum ist Schuld ein zentrales Thema: Sünde, Vergebung, Gnade. Doch die Botschaft Jesu war nicht Schuldumkehr, sondern Liebe trotz Schuld.
Im Buddhismus spielt Schuld keine Rolle. Es geht um Leiden als Teil der Existenz und um den Weg, durch Achtsamkeit und Mitgefühl eine andere Haltung einzunehmen.
In vielen indigenen Traditionen steht nicht das Individuum im Mittelpunkt, sondern das Netz der Beziehungen. Schuld wird im Kontext von Gemeinschaft und Erde verstanden. Verantwortung heißt, Balance wiederherzustellen.
Rumi, der Sufi-Dichter, schrieb: „The wound is the place where the Light enters you.“ (1995). Die Wunde ist kein Ort der Schuld, sondern eine mögliche Quelle der Verwandlung.
Das Missverständnis des „Law of Attraction“
In den letzten Jahrzehnten hat eine spirituelle Strömung besondere Popularität gewonnen: das Law of Attraction. Die Idee: Gleiches zieht Gleiches an. Deine Gedanken bestimmen deine Realität.
Für manche ist das eine ermutigende Botschaft: Wer an Erfolg denkt, wird Erfolg erleben. Wer an Liebe glaubt, wird Liebe anziehen.Doch in Bezug auf Trauma wird diese Lehre gefährlich. Denn plötzlich klingt es so, als hätte das Opfer das Leid selbst erschaffen. „Du musst es dir manifestiert haben“, heißt es dann.
Drei Probleme sind offensichtlich:
- Opferbeschuldigung: Wer Gewalt erlebt, bekommt eingeredet, er habe sie „angezogen“.
- Ignorieren von Strukturen: Rassismus, Armut, Kolonialismus lassen sich nicht „wegdenken“.
- Bypassing: Gefühle wie Wut oder Schmerz werden als „niedrige Frequenz“ abgewertet und verdrängt.
Die Folge: Menschen fühlen sich doppelt beschämt.
Eine reifere Lesart würde sagen: Ja, Gedanken prägen, wie wir die Welt wahrnehmen. Aber Gewalt bleibt Gewalt. Niemand ist schuld an dem, was ihm angetan wurde. Verantwortung liegt nicht in der Tat, sondern in der Antwort.
Schuld und Verantwortung im Kollektiven
Die Spannung zwischen Schuld und Verantwortung betrifft nicht nur Einzelne, sondern ganze Gesellschaften. In Kriegen liegt Schuld bei den Aggressoren. Aber Verantwortung bleibt auch bei nachfolgenden Generationen: Wie erinnern wir? Wie sorgen wir dafür, dass es nicht wieder geschieht?
Kolonialismus ist ein weiteres Beispiel. Völker, die unterdrückt wurden, tragen keine Schuld für ihre Geschichte. Aber die Gesellschaften, die von dieser Unterdrückung profitiert haben, tragen Verantwortung für Aufarbeitung, Wiedergutmachung und Veränderung.
Elie Wiesel, Überlebender des Holocaust, sagte in seiner Nobelpreisrede: „Neutrality helps the oppressor, never the victim. Silence encourages the tormentor, never the tormented.“ (1986). Schuld und Verantwortung sind hier klar getrennt: Schuld bei den Tätern, Verantwortung bei allen, die nicht wegsehen dürfen.
Die Brücke
Am Ende läuft vielleicht alles auf eine Brücke hinaus, die schwer zu gehen ist: Schuld dort lassen, wo sie hingehört, und Verantwortung dort annehmen, wo sie uns frei macht.
Diese Brücke verlangt Mut. Sie verlangt, weder Schuld zuzuschieben noch Verantwortung abzugeben. Sie verlangt, dass wir sowohl die Realität des Leids anerkennen als auch die Freiheit, die in der Antwort liegt.
Und vielleicht geht diese Brücke sogar über zwei Ebenen hinweg: In 3-D, in unserer gelebten Wirklichkeit, bedeutet sie klare Schuldentlastung und die Möglichkeit, wieder sicher zu werden. In 5-D, in der spirituellen Perspektive, öffnet sie den Raum, Trauma nicht nur als Wunde, sondern auch als Lehrfeld der Seele zu sehen. Beides widerspricht sich nicht solange man nicht das eine an die Stelle des anderen setzt.
Schlussgedanken
Nicht alles, was geschieht, haben wir in dieser Welt selbst erschaffen. Aber in allem, was geschieht, können wir Antwortende sein.
Vielleicht liegt hier der tiefste Kern von Heilung: In 3-D die Schuld zurückzugeben, wo sie hingehört. Und in 5-D zugleich den Mut zu finden, auch im Schweren eine Spur von Sinn, Wachstum oder Liebe zu entdecken.
Das gilt für Einzelne, die Gewalt überlebt haben. Und es gilt für Gesellschaften, die lernen müssen, mit der Vergangenheit so umzugehen, dass Zukunft möglich wird – nicht nur auf der Ebene der Geschichte, sondern auch im Licht einer größeren, seelischen Erzählung.
Quellen / Weiterführende Literatur:
• Bessel A. van der Kolk: The Body Keeps the Score. Viking, 2014.
• Judith Lewis Herman: Trauma and Recovery. Basic Books, 1992.
• Viktor E. Frankl: Man’s Search for Meaning. Beacon Press, 1946.
• Gabor Maté: In the Realm of Hungry Ghosts. Vintage Canada, 2008.
• Stephen W. Porges: The Polyvagal Theory. Norton, 2011.
• Peter Levine: Waking the Tiger. North Atlantic Books, 1997.
• Janina Fisher: Healing the Fragmented Selves of Trauma Survivors. Routledge, 2017.
• Thich Nhat Hanh: How to Love. Parallax, 2014.
• Rumi: The Essential Rumi. HarperOne, 1995.
• Desmond Tutu: No Future Without Forgiveness. Doubleday, 1999.
• Elie Wiesel: Nobel Lecture, 1986.
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