Meine Mutter hat das Ende ihres Lebens erreicht. Sie liegt im Sterben.
Ich hatte erwartet, dass Menschen sich melden würden. Dass Freundinnen, Bekannte, Kolleginnen vielleicht nicht alles verstehen, aber doch irgendwie da wären. Zumindest ab und an.
Doch das Gegenteil geschieht. Die Welt läuft weiter. Fast niemand fragt nach. Die meisten schwiegen.
Was ich erlebe ist nicht nur der Abschied von einem über alles geliebten Menschen, es ist auch eine schmerzhafte Lektion über soziale Isolation im Angesicht des Todes. Und ich habe mich gefragt: Warum ist das so? Warum ist ausgerechnet diese existenziellste aller Erfahrungen so einsam? Warum zieht sich das Umfeld zurück, wenn es am meisten gebraucht wird?
Was wie persönliches Versagen aussieht, hat vermutlich tiefere Ursachen. Und über die möchte ich heute schreiben. Vielleicht, weil ich selbst Klarheit suche. Vielleicht, weil du ähnliches erlebt hast. Vielleicht, weil wir aufhören sollten, das Sterben als ein Tabuthema zu begreifen. Schließlich ist es neben der Geburt das normalste aller Dinge und etwas, das jeder einzelne von uns erlebt.
1. Der Tod – ein Fremder in westlichen Gesellschaften
In vielen Kulturen ist der Tod Teil des Lebens. Er wird nicht versteckt, nicht ausgelagert, nicht beschwiegen. Menschen sterben zu Hause. Sie werden begleitet. Es wird gemeinsam getrauert, gesungen, gegessen, erzählt.
Im Westen ist das anders. Hier ist der Tod zum Tabu geworden.
Er findet in Krankenhäusern statt, hinter Vorhängen, auf Palliativstationen. Trauer wird „bewältigt“, nicht geteilt. Und wer zu lange traurig ist, muss aufpassen, nicht als „unfähig zu
funktionieren“ zu gelten.
Der Tod stört. Er passt nicht zur Selbstoptimierung, zur Produktivität, zur Dauerverfügbarkeit. Er macht Angst – auch, weil uns das kulturelle Wissen fehlt, wie wir mit ihm umgehen können.
2. Wenn andere sich abwenden – was steckt dahinter?
Was ich gerade erlebe, ist nicht außergewöhnlich. Viele berichten Ähnliches: Dass enge Freunde plötzlich schweigen. Dass gute Bekannte ausweichen. Dass sogar Familienmitglieder innerlich auf Abstand gehen.
Aber warum?
Hier sind einige mögliche Gründe:
- Hilflosigkeit: Viele wissen nicht, was sie sagen sollen. Also sagen sie lieber gar nichts.
- Verdrängung: Der Kontakt mit Sterben und Trauer konfrontiert mit der eigenen Angst vor Verlust und wird daher gemieden.
- Scham: Manche haben den Impuls zu helfen, tun es aber nicht und fühlen sich dann schuldig. Um dieses Gefühl nicht spüren zu müssen, ziehen sie sich ganz zurück.
- Überforderung: In einer Gesellschaft, die keine Räume für Trauer kennt, haben viele selbst keine Strategien, um mit solchen Situationen umzugehen.
- Funktionalitätsdruck: Wer nicht „leistet“, wird ausgeklammert. Auch das Trauern selbst wird zur Leistung und wer nicht bald wieder lächelt, wird gemieden.
Dies sind keine Ausreden, sondern Erklärungen, und sie zeigen: Es liegt nicht an dir und auch nicht nur an ihnen. Es ist ein System aus kollektiver Sprachlosigkeit.
3. Die doppelte Einsamkeit
Das Schwerste am Sterben eines nahestehenden Menschen ist nicht nur der Abschied. Es ist auch die Tatsache, dass ich mich damit allein fühle. Als würde ich durch eine Nebelwand gehen, während um mich herum das Leben weitergeht – bunt, laut, achtlos.
Ich werde nicht nur mit dem Tod konfrontiert, sondern auch mit einer Wahrheit über Beziehungen: Wer hält wirklich aus, wenn es dunkel wird?
Diese Erfahrung kann bitter sein und traurig machen. Aber sie kann auch klärend wirken..
ALL DAS DARF SEIN.
4. Was ich gelernt habe
Ich lerne in dieser Zeit viel über andere Menschen und über mich selbst.
Ich lerne, dass wahre Nähe nicht immer dort ist, wo man sie vermutet. Dass Schweigen nicht immer Bosheit ist, sondern oft Feigheit. Dass ich aufhören darf, Unterstützung zu erwarten – und anfangen, sie mir aktiv zu holen.
Und dass es Kraft gibt, die aus Stille kommt. Wenn ich nicht mehr darauf warte, dass andere den Raum füllen, sondern selbst hineinspreche, hineinspüre… und aus dieser Tiefe heraus weitergehe.
5. Was du tun kannst, wenn du betroffen bist
Wenn du gerade jemanden begleitest, der stirbt, und dich im Stich gelassen fühlst:
- Sprich es aus. Nicht unbedingt gegenüber denen, die schweigen, sondern gegenüber dir selbst. Die Wahrheit heilt.
- Erlaube dir alle Gefühle. Auch Wut, Traurigkeit, Enttäuschung.
- Such dir bewusste Räume, in denen du ehrlich sein kannst – online, offline, spirituell, therapeutisch.
- Erinnere dich: Es ist nicht deine Aufgabe, das Unvermögen anderer zu tragen.
- Und manchmal hilft ein einfacher Satz: „Ich bin nicht allein – auch wenn es sich so anfühlt.“
6. Was du tun kannst – wenn du nicht betroffen bist, aber jemand in deinem Umfeld
Wenn du weißt, dass jemand in deinem Umfeld einen Menschen verliert und ihn im Sterben begleitet:
- Melde dich. Lieber unbeholfen als gar nicht.
- Frag nicht nur „Wie geht’s dir?“, sondern: „Was brauchst du gerade?“ oder „Willst du reden oder einfach schweigen und trotzdem nicht allein sein?“
- Sei da. Nicht als Retter*in, sondern als Mensch.
- Und: Bleib auch dann, wenn du nicht weißt, was du sagen sollst. Präsenz ist oft heilsamer als Worte.
7. Abschied mit offenen Augen
Meine Mutter liegt im Sterben. Ich weiß nicht, wie viele Tage, Wochen oder vielleicht Monate uns noch bleiben. Aber ich weiß: Ich gehe diesen Weg wach. Traurig. Wütend manchmal. Und trotzdem getragen – von der Liebe zu ihr. Und von dem stillen Wissen, dass ich nicht die Einzige bin, die solche Wege geht. Wenn du das liest, vielleicht gerade aus einem ähnlichen Grund: Ich sehe dich. Du bist nicht verrückt. Nicht zu empfindlich. Nicht zu anspruchsvoll. Du bist einfach nur Mensch. Und der Tod macht uns empfindlich für das, was wirklich zählt. Vielleicht ist das seine eigentliche Gabe.
(Wenn du diesen Beitrag teilen möchtest oder jemanden kennst, dem er guttun könnte: Bitte tu das. Manchmal reicht ein Text, um einen Riss, um die Wand der Einsamkeit einzureißen und einen ersten Sonnenstrahl hindurchzulassen).
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