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Gedankenfutter 2/2023: Der Zauber der Wahlfamilien oder ein Blick über den Tellerrand

 

[…] Deimos löste sich wie in Zeitlupe von seiner Position am Fenster und erwiderte den Blick seines Sohnes mit stummem Kummer. „Meine beiden Kinder sind erwachsen geworden“, begann er nach einer Weile des Schweigens. Seine Stimme war dunkel und regungslos wie die Ruhe vor dem Sturm. „Du bist mein Wahlsohn, Logan […] Wenn du uns jetzt verlässt, wirst du nicht ohne meine hundertprozentige Unterstützung gehen, so sehr ich deinen Entschluss auch bedaure. Du bist mein Wahlsohn“, griff er das Sentiment nach einer kurzen Pause ein weiteres Mal auf, „und als solcher in jeder Weise mit den gleichen Rechten und Mitteln ausgestattet wie mein leibliches Kind. Kein Vater könnte stolzer sein, einen Mann deines Kalibers seinen Sohn zu nennen.“

 

Neben vielen anderen Themen erkunde ich in Nachttanz auch das Thema der Wahlfamilien. Nicht nur zwischen dem australischen Tycoon Deimos und dem Lakota-Amerikaner Logan, sondern auch zwischen Logan und dessen Wahlbruder Travis, einem jungen australischen Aboriginal, mit dem er sich als Teenager in den Straßen von Sydney angefreundet und den er unter seine Fittiche genommen hatte.

 

Für alle drei Männer bedeutet der Begriff „Familie“ nicht allein Blutsbande, sondern er beschreibt jene Menschen in ihrem Leben, für die sie ihr Herz öffneten und die sie eng an ihrer Seite haben wollten.

 

Außerhalb meines „Nachttanz-Universums“ hat mich vor kurzem das Beispiel einer türkischen Mutter und eines kurdischen Jungen in meinem Bekanntenkreis tief beeindruckt.

 

Der Junge ist ein zugewanderter Teenager, dem in Deutschland und innerhalb seiner eigenen Familie der Halt fehlte und der begann, schlechte Entscheidungen für sich zu treffen. Eine Lehrerin, der er sich anvertraut hatte, kam ins Gespräch mit der Mutter seines türkischen Klassenkameraden.  Die beiden Jungen waren einst lose befreundet gewesen, aber ihre Freundschaft hatte inzwischen an Substanz verloren. Die Lehrerin fragte die türkische Mutter ― eine sehr freundliche und kultivierte Frau ― ob sie sich vorstellen könne, die Geschicke des kurdischen Jungen mit im Blick zu behalten, da ihr eigener Junge mit dem Kurden in der Vergangenheit oft Zeit verbracht und sie miteinander für die Schule gelernt hatten.

 

Ohne Nachdenken zu müssen, stimmte die Mutter zu und öffnete ihr Herz WEIT! Sie besuchte die kurdische Familie, bot dort ihre uneingeschränkte Hilfe an und sorgte dafür, dass der Junge mit ihrem eigenen wieder zu lernen begann. Seine Noten kletterten nach oben, er gewann wieder an Selbstvertrauen und wird jetzt sein Abitur machen.

 

Ich bin nicht sicher, ob sich eine einheimische (d.h. deutsche) Mutter so beherzt für das Wohl des Kindes einer anderen Familie eingesetzt hätte … Ich selbst hätte es wahrscheinlich nicht geschafft, schon aufgrund des fixen Gedanken, dass ich mich nicht in die Angelegenheiten einer anderen Familie „einmischen“ könne.

 

Täglich denke ich nun darüber nach, in welch einer Welt wir leben könnten, wenn wir ALLE unsere Herzen für einen einzigen anderen Menschen öffnen könnten, der nicht zu unserer (Bluts-)Familie gehört?

 

So weit, so kraftvoll und so bedingungslos wie diese wunderbare türkische Mutter es für den kurdischen Jungen getan hat. <3

 

 

 

“Family isn’t always blood. It’s the people in your life who want you in theirs. The ones who accept you for who you are.

The ones who would do anything to see you smile, and who love you no matter what.”

(Quelle: unbekannt)

 

 

 

© Kory Wynykom, 2023

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